Er hatte hellblondes, strubbeliges Haar, war 14 Jahre alt und wurde von den anderen Dorfkindern regelmäßig als „Russki“ beschimpft und gemieden. Ich war noch zu klein, um Schulkind zu sein, empfand die gnadenlose Ausgrenzung des störrischen Buben in der einklassigen Dorfschule meines Vaters aber schon als gerechtfertigt. Schließlich war sein Vater, ein verschlossener, schweigsamer älterer Mann, ein Russe, und vor Russen musste man sich in Acht nehmen. Das wusste jedes Kind. Der 2. Weltkrieg hatte ihn in dieses entlegene Dorf und an den Rand der Gesellschaft gespült und dort zum ewigen Außenseiter gemacht. Ihn und seinen Sohn. Der Alte war übrigens Pole, aber das erfuhr ich erst später, und es spielt keine Rolle.
Die lange schon vergessene Scham darüber, mit den SpötterInnen mitgelacht zu haben, kam plötzlich wieder hoch, als ich von der Ausgrenzung russischer Kinder las. (1) Ein russischer Akzent reiche schon, lese ich da, um beschimpft zu werden. Die ehemals beste Freundin mobbt plötzlich. Man spüre selbst im Büro nun Feindseligkeiten.
Ein Freund postete zu Ostern das berührende Foto zweier Frauen, einer Ukrainerin und einer Russin, die bei der Karfreitagsprozession in Rom auf die Bitte des Papstes gemeinsam das Kreuz trugen. Das sei eine Verzerrung der Realität, man möge doch „Täter und Opfer“ nicht verwechseln, kommentierte jemand das Posting.
„Täter und Opfer“. Der brutale, skandalöse Krieg eines größenwahnsinnigen Despoten gegen die Ukraine, gegen Männer, Frauen und Kinder, lässt uns nicht daran zweifeln, wer die Opfer sind. Bei der Verteilung der Täterrollen aber ist Differenzierung ein Gebot der Stunde und der Humanität.
Jetzt höre ich die Kinder von damals wieder „Russki“ zischen, und es tut mir so leid.
(1) Siehe Mobbing gegen Schüler mit russischen Wurzeln in Wien. In: Heute online vom 16. April 2022.
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