Gerhard Riegler: Wenn „Sehr gut“ nicht gut genug ist

Stellen Sie sich Folgendes vor: Ihre Schüler (1) schaffen bei einem standardisierten Test im Durchschnitt 90 von 100 erreichbaren Punkten. Die Ergebnisse dieses Tests dienen dazu, die Lehrerleistungen in einem Ranking zu publizieren. Sie landen bei diesem Ranking im unteren Drittel, dürfen sich also mit dem Prädikat „mieser Lehrer“ schmücken.

Sollten Sie an Irrtum oder einen dummen Scherz glauben, muss ich Sie leider enttäuschen. Die New York Times (2) berichtete derart Unfassbares. Aber wie können neunzig von hundert Punkten als Klassenschnitt Grundlage für eine schlechte Bewertung der Lehrerleistungen sein? Haben sich seine Schüler gegenüber dem Vorjahr von 91 auf 90 Punkte „verschlechtert“, hat der Lehrer versagt. Hätten die Schüler gleich viele Punkte wie im Vorjahr, wäre der Lehrer bestenfalls Durchschnitt. Nur eine Steigerung auf 92 oder 93 Punkte (wohlgemerkt von maximal möglichen 100) würde dem Lehrer das Prädikat „gut“ einbringen.

Wohl dem Lehrer, dessen Schüler sich von grottenschlechten 50 auf keineswegs atemberaubende 55 Punkte gesteigert haben. Ihm ist Anerkennung gewiss. In eine überdurchschnittlich leistungsstarke Klasse geschickt zu werden, kommt in New York also beinahe einem pädagogischen Himmelfahrtskommando gleich.

Was die „Experten“ bei diesem grenzgenialen Lehrerbewertungsmodell geflissentlich ignorieren, ist das Thema Schülermotivation, das ja auch bei Überprüfungen wie PISA, Standards oder Feldtestungen für die Zentralmatura eine wichtige Rolle spielt. Nicht nur ich frage mich wohl, warum ein Schüler sein Bestes geben und im Schweiße seines Angesichts seine Leistungsreserven ausreizen soll, wenn es bei dem Test für ihn um genau gar nichts geht? Die New York Times schweigt zu dem Thema. Mag sein, dass die New Yorker Schüler diese Tests im Rahmen der Leistungsfeststellung absolvieren. Doch selbst in diesem Fall hat der Kollege in der Klasse mit 90 Durchschnittspunkten schlechte Karten. Schüler, die sich der Bestnote ohnehin sicher sein können, werden wenig Motivation verspüren, bei diesem Test über sich hinauszuwachsen, nur um ihrem Lehrer den Ranking-Pranger zu ersparen.

Wenn Ihnen all das noch nicht abstrus genug war, kann ich ein finales Schmankerl bieten: In einem weiteren Artikel zu diesem Thema berichtet die NY Times (3), dass der „margin of error“ bei diesem Test bei über 30 (in Worten dreißig) Prozent liegt!

Man muss wohl „Experte“ sein, um das alles gut zu finden. Deren Kompetenzen wären dringend zu evaluieren!

(1) Personenbezogene Bezeichnungen umfassen gleichermaßen Personen männlichen und weiblichen Geschlechts.

(2) Sharon Otterman und Robert Gebeloff, In Teacher Ratings, Good Test Scores Are Sometimes Not Good Enough. In: New York Times Online vom 25. Februar 2012.

(3) Anna M. Phillips, Parents Have Mixed Views on Teacher Rankings. In: New York Times Online vom 27. Februar 2012.

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3 Gedanken zu “Gerhard Riegler: Wenn „Sehr gut“ nicht gut genug ist

  1. All das ist doch nur die Fortsetzung einer Fortsetzung einer Fortsetzung … eines Kardinal- Irrtums: Menschliche Leistung ist objektiv bewertbar!
    Sieh Dir doch bitte unsere Geschichte an! Mehr als die Hälfte aller Nobelpreis- Errungenschaften sind heute Lachnummern. Heutige Genies wurden zu deren Lebzeiten verlacht und geächtet. Bei jedem Regime- Wechsel geht die Intelligezia in den Knast und kommen die ehemaligen Dummköpfe ans Ruder usw.
    Wie will man da jemanden sinnvoll beurteilen!?
    Evolution war nur durch ihre jeweilige Vielfalt so erfolgreich!

    In diesem Sinne: paradise your life ! 😉

  2. Es ist unglaublich und einfach nicht mehr zu fassen! Scheinbar sitzen nicht nur in den österreichischen Leitstellen für Bildung Leute die reine Theoretiker sind und von Klassen-bzw. Schülerarbeit absolut keine Ahnung haben. Denn was sich alles um das österreichische Beurteilungssystem dreht, lässt nicht viel Besseres erahnen.
    Siehe 60% Bewertung in Englisch. Seit Jahren überall festgeschrieben und das Bildungsministerium bestätigt bei einem Einspruch 50%.
    Es weiß wohl scheinbar die rechte Hand nicht mehr was die linke Hand tut.
    Wir müssen uns als Berufsstand mehr solidarisieren und wie die ORF Leute geschlossen gegen diesen Wahnsinn auftreten.
    Ein leidenschaftlicher, engagierter Lehrer, der eigentlich nie Beurteilungsprobleme hatte und außerdem noch gute Leistungen, und das
    bei 60% Schlüssel erzielt.
    Sieglinde Stein, BRG APP, Innsbruck

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